10. April: Koyasan - HiroshimaHeute morgen werde ich schon um kurz vor sechs wach. Die Sonne ist schon aufgegangen, das Licht scheint gedimmt durch die papierbespannten Fenster. Ich stehe auf und ziehe mich langsam an und begehe dabei einen Verstoß gegen die japanische Etikette nach der anderen. Zuerst schwappt mir Tee auf die Tatami-Matten, dann gerate ich mit den Pantoffeln durcheinander. Auf den Tatami-Matten geht man auf Strümpfen, auf dem Holzboden im Vorraum, wo das Waschbecken ist, in normalen Pantoffeln und auf der angrenzenden Toilette zieht man dann die Klo-Pantoffeln an. Bei dem vielen Wechseln des Schuhwerks passe ich nicht auf und setzte irgendwann einen Fuß mit der Klopantoffel auf die Tatami-Matte. Schlimmer gehts nimmer.
Um zehn vor sieben erscheint dann wie vereinbart einer der Mönche und holt die anderen Gäste und mich zur morgendlichen Andacht. Etwa 20 Gäste, darunter etwa fünf oder sechs Japaner, nehmen auf den Bänken Platz, vorne knien drei Mönche und halten unter ständigem Sprechgesang die Zeremonie ab. Währenddessen dürfen die Gäste einzeln nach vorne treten, sich knien, etwas undefinierbares in die Glut streuen, beten und sich verbeugen. Schließlich rezitieren alle zusammen gemeinsam mit den Mönchen das Herz-Sutra, die Japaner aus einer Art Gesangbuch, die Ausländer von dem Blatt, dass einer der Mönche während der Zeremonie ausgeteilt hat. Das Herz-Sutra handelt von der Weisheit und davon, dass eigentlich nichts wirklich existiert, denn alles ist Leere, also ist es auch völlig nutzlos, Dingen hinterherzujagen. Wem es gelingt, all das irdische Streben hinter sich zu lassen, der wird erleuchtet. So verstehe ich zumindest sinngemäß die englische Übersetzung.
Zum Abschluss erklärt einer der Mönche, zuerst auf japanisch, dann auf englisch, die Bedeutung Koyasans: Dass der Ort heute zwar innerhalb von ein paar Stunden von Kyoto aus zu erreichen ist, dass aber zu Kobo Daishis Zeiten eine mehrtägige Reise erforderlich war und der Ort sehr abgeschieden in den Bergen lag, als Kobo Daishi Kyoto verließ, um hier ein religiöses Zentrum aufzubauen. Koyasan liegt auf einem Plateau, umgeben von acht Berggipfeln, so dass der Haupttempel, der damals gegründet wurde, wie Buddha inmitten der Lotosblüte sitzt. Der Fudo-in Tempel, in dem wir uns befinden, ist einer der ältesten in Koyasan und bereits 1100 Jahre alt.
Ich finde es schön, auf diese Weise eingebunden zu werden. Von anderen Tempelübernachtungen hatte ich gelesen, dass die Gäste nicht einmal wussten, wohin sie sich während der Zeremonie setzen sollten, hier legt man doch Wert darauf, dass auch die Ausländer verstehen, was gerade um sie herum passiert.
Nach der Zeremonie gibt es noch ein buddhistisches vegetarisches Frühstück, wieder mit Reis, Tofu, Gemüse und unidentifizierten Essobjekten. Dabei wird mir klar, dass die kleine Schale, in die ich gestern Reis und kleine Portionen des Essens gelegt hatte, bevor ich sie in den gierigen Mund befördert habe, gar nicht die Schale fürs Essen sondern für den Tee war, aber ich habe gestern ja keinen Tee getrunken, also ist es eigentlich egal. Ich kann mir allerdings das Kopfschütteln der Mönche plastisch vorstellen.
Nach dem Frühstück streife ich noch durch die Gänge und mache ich ein paar Fotos. Immerhin ist in einer der Schiebetüren des Zeremonienraums von morgendlichen Andacht ein kleines Guckloch, also schnell noch ein Foto gemacht.
Danach checke ich aus und marschiere mit Rucksack und Tasche nochmal hinüber zum Garan. Während der Reisevorbereitung hatte ich gelesen, dass ausgerechnet heute morgen eine Prozession stattfinden soll, eine der ältesten Zeremonien in Koyasan, die noch von Kobo Daishi eingeführt worden sein soll. Viele Informationen waren darüber nicht zu finden, und ich bin gar nicht sicher, ob die Prozession heute tatsächlich stattfindet, aber als ich auf dem Garan ankommt, sind schon Matten auf dem Boden ausgerollt und Mönche stehen gutgelaunt vor einem der Tempel, scherzen und kontrollieren, ob ihre Kleidung auch sitzt. Bis jetzt wusste ich ja nicht, ob man hier überhaupt fotografieren darf, aber angesichts der Profifotografen und eines Mönchs mit Spiegelreflexkamera ist dann klar, dass heute nicht nur Franzosen Fotos machen dürfen.
Viele Leute sind gar nicht da, wahrscheinlich kaum mehr als Prozessionsteilnehmer, und so kann ich alles wunderbar sehen, als die Prozession schließlich um neun Uhr beginnt. Zunächst folgt ein kurzer Teil in der Halle unterhalb der Pagode, dann setzt sich die Prozession in Gang.
Vor der Pagode stimmen die Mönche gemeinsam einen Sprechgesang an, dann geht die Prozession weiter bis zu Kondo-Halle. Wieder fällt mir diese Mischung aus Tradition und Moderne auf: Einer der Mönche bläst traditionell auf einer großen Meeresschnecke, während der "moderne" Mönch neben ihm verkabelt ist. Ein Mönch schlägt an bestimmten Stellen des Sprechgesangs immer wieder die große Glocke an.
Als die Zeremonie beendet ist, gehe ich mit Tasche und Rucksack zur Bushaltestelle. Eigentlich rechne ich nicht damit, dass ich die nächste Zahnradbahn nach unten noch erwische, aber ich habe Glück: Der Bus fährt ein paar Minuten später ab und erreicht den Bahnhof gerade noch, bevor sich die schon vollbesetzte Zahnradbahn in Bewegung setzt. Unten angekommen geht es mit dem Zug wieder zurück nach Osaka, diesmal mit Umsteigen in Hashimoto. In Namba angekommen, finde ich zum Glück schnell das Schließfach wieder, zahle die erforderlichen 500 Yen nach, befreie meinen Koffer aus seinem Verlies und suche die U-Bahn. Diesmal fahre ich mit der Midosuji-Linie durch Osaka hindurch bis nach Shin-Osaka, wo der Shinkasen abfährt. Zum Glück scheint mittags zwischen zwölf und ein Uhr eine der wenigen Zeiten zu sein, in denen es in Japan mal keine Rush Hour gibt, und so komme ich relativ entspannt ans Ziel und verfrachte mich und meinen Koffer mit dem Aufzug zum Shinkansen-Bahnhof. Noch schnell ein paar Snacks und Getränke gekauft, dann gehe ich zum Bahnsteig, wo der Shinkasen namens Sakura gerade aus der Gegenrichtung einfährt. Ich stelle mich in die Schlange und kann durch das Fenster beobachten, wie Reinigungskräfte die Sitze umklappen, damit sie in Fahrtrichtung zeigen, und den Zug säubern. Sogar Fenster werden geputzt. Dann dürfen die Fahrgäste einsteigen, und pünktlich um 12.59 Uhr beginnt die Fahrt nach Hiroshima.
Die Fahrt verläuft natürlich ohne Vorkommnisse, der Waggon ist nur halb besetzt, und um kurz vor halb drei erreicht der Zug dann Hiroshima. Obwohl ich im ersten Wagen sitze und als erste aussteige, schaffe ich es kaum, noch ein Foto vom Zug zu machen, da geht die Fahrt auch schon weiter.
Hier in Hiroshima will ich entweder mit der Straßenbahn zum 2 km entfernten Hotel fahren oder mit dem Taxi. Als ich den Shinkansen-Ausgang nehme und vor dem Bahnhof weit und breit keine Straßenbahn oder auch nur Straßenbahnschienen sehen kann, fällt die Entscheidung schnell zugunsten des Taxis. Das soll laut Hotel-Homepage etwa 1300 Yen, 10 Euro, kosten, und den Spaß gönne ich mir gerne. Also los, zum Taxistand. Der Fahrer öffnet auch sofort mit einem Hebel die Tür zum Rücksitz, lädt mein Gepäck in den Kofferraum, schaut sich das Blatt mit der japanischen Wegschreibung an, die ich mir vorsichtshalber noch von der Hotel-Homepage ausgedruckt habe, und ich steige ein. Die Tür schließe ich natürlich nicht selbst, das macht wieder der Fahrer mit dem Hebel am Fahrersitz. Die Fahrt beginnt, ich sitze auf einem weißen Spitzendeckchenüberwurf und mache mir Sorgen, ob mein Fotorucksack, den ich ja überall im Dreck abstelle, diesem Blütenweiß eventuell abträglich ist. Der Fahrer fährt ein paar Schleichwege und schafft es tatsächlich, mich für nur 1.200 Yen zum Ziel zu befördern. Als ich die gezahlt habe und ausgestiegen bin, hat der Hotelportier schon meinen Koffer ausgeladen und ich schreite entspannt zur Rezeption.
Hier in Hiroshima habe ich mich für zwei Nächte im ANA Crowne Plaza einquartiert, das erstaunlich günstig ist, jedenfalls günstiger als das Hotel in Tokio, obwohl es eines dieser Häuser ist, in das man deutlich besser passt, wenn man mit dem Taxi vorfährt und nicht mit der Straßenbahn. Ich bekomme ein Zimmer im 19. Stockwerk, im gesicherten Stockwerk, wie mir die Mitarbeiterin an der Rezeption erklärt. Ich muss nach dem Aussteigen aus dem Aufzug meine Zimmerkarte verwenden, um die Tür zu den Hotelzimmern zu öffnen. Ob das ein besonderer Service für alleinreisende Frauen ist? Keine Ahnung, das Hotelzimmer ist jedenfalls schön, ich stelle meinen Koffer ab und mache mich auf den Weg zum Friedenspark.
Der Friedenspark liegt im Zentrum Hiroshimas auf einer Flussinsel in der Nähe des Epizentrums der Atombombenexplosion. Betritt man den Park von Süden kommend, steht man zunächst vor dem Friedensmuseum.
Das Museum will ich aber erst zum Abschluss besuchen, zuerst gehe ich weiter zum Cenotaph, der an die Opfer des Atombombenabwurfs erinnert. Er soll die Form eines Sattels haben. Von hier aus sieht man den Atombombendom und die Friedensflamme.
Nur ein paar Schritte weiter steht das Kinder-Friedensdenkmal mit vielen Papierkranichen, die von Kindern aus aller Welt hierhergeschickt werden.
Über den Fluss sieht man auf den Atombombendom, der als eines von nur wenigen Gebäuden nach der Explosion noch existierte.
Auf einer Bank mache ich Pause und schaue hinüber zu der Ruine. Es ist kaum fassbar, dass hier im August 1945 alles zerstört war und zehntausende Menschen gestorben sind. Abgesehen von den Denkmälern und den Besuchergruppen ist es heute hier wie in jedem anderen Park auch. Es ist warm, Kinder fahren mit den Fahrrädern herum, Männer in den üblichen dunklen Anzügen kommen von der Arbeit. Nebenan blühen die Tulpen, und drüben im Park stehen Palmen. In meiner Vorstellung war Hiroshima immer eine schwarz-weiße Trümmerlandschaft, wie auf den alten Fotos.
Zum Abschluss gehe ich dann noch ins Museum. Im Reiseführer wurde gewarnt, dass die Fotos und Berichte der Opfer ziemlich belastend sein könnten, also wappne ich mich innerlich. Das Museum ist aber gut gemacht und beginnt mit einem Fotoportrait von Hiroshima vor dem Atombombenabwurf, erst dann folgen Informationen zum Abwurf und schließlich Fotos und Überbleibsel von der Explosion.
Stellvertretend für viele Fotos und Objekte diese zwei: Ein beschädigter Buddha-Kopf und das Dreirad eines Dreijährigen, der zur Zeit des Explosion gerade mit seinem geliebten Dreirad unterwegs war. Er starb am selben Tag und wurde von seinem Vater zusammen mit dem Dreirad beerdigt.
Nach dem Museum habe ich einen Kloß im Hals, und beim Hinausgehen sehe ich einen alten Mann, der sich die Augen reibt. Trotzdem bin ich froh, dass ich mir das Museum angesehen habe, ein Besuch des Friedensparks ohne das Museum wäre einfach unvollständig gewesen.
Im Hotel mache ich mich erst mal daran, den Koffer aufzuräumen und neu zu packen. Die Souvenirs kommen nach unten, ich finde erfreut noch drei Packungen Schokoriegel und sortiere, was ich noch zum Anziehen habe. Das sieht gut aus, ich muss die nächsten Tage also nicht im Kimono verbringen. Abends streife ich in der nahen Haupteinkaufsstraße durch die Geschäfte. Hier gibt es auch eine überdachte Straße, aber gegen das quirlige Treiben auf dem Nikishi-Markt in Kyoto oder die Neonwelt in Osaka wirkt das hier ruhig und gediegen. Auf der Suche nach ein paar T-Shirts für die Patenkinder, wobei mir so etwas vorschwebt wie Godzilla, der Tokio angreift, umrahmt von japanischen Schriftzeichen, finde ich stattdessen T-Shirts mit deutschen Aufdrucken. Vielleicht ist deutsch hier besonders "in"? Ich kann jetzt jedenfalls nachvollziehen, wie es Millionen von englischsprachigen Menschen gehen muss, wenn sie Menschen mit unsinnigen englischen Texten auf ihren T-Shirts begegnen.
Hier in Hiroshima soll es besondere Pfannkuchen geben, und ich finde schließlich ein kleines Pfannkuchenrestaurant, in dem ich an der Theke Platz nehmen kann. Das Essen wird hier direkt vor dem Gast zubereitet, und wenn man an der Theke sitzt, isst man es direkt von der heißen Platte. Das Foto des fertigen Pfannkuchen zeigt übrigens nicht mein Essen, sondern ein Konkurrenzprodukt, denn bei mir sind im Verlauf des mühsamen Bestellvorgangs irgendwie die Hälfte der Zutaten abhanden gekommen und das Ergebnis sieht nicht ganz „rund“ aus, schmeckt aber trotzdem.
Auf dem Heimweg kaufe ich mir in einem kleinen „Family Mart“ noch ein paar Getränke, ein Eis und eine Tafel Schokolade aus Japan, die gar nicht mal so übel schmeckt. Im Hotel werden noch die Fotos der letzten Tage aufs Laptop geladen und der Wetterbericht studiert, der viele Wolken, aber immerhin keinen Regen prognostiziert.
Ausgaben des Tages:Schließfach Y 500
U-Bahn Y 280
Taxifahrt Y 1200
Snacks und Getränke Y 3200
Peace Memorial Museum Y 50
Abendessen Y 1300
1 ÜN im Hotel Crowne Plaza Y 8500
in Hiroshima eine blühende lebendige Stadt vorzufinden: unbezahlbar