3. Tag – Donnerstag, 17.03.
Heute scheint tatsächlich am Morgen schon die Sonne, es ist aber bitterkalt, so frieren wie gestern möchte ich nicht nochmal und ziehe mich dementsprechend wärmer an.
Erstes Ziel ist heute der südlich des historischen Zentrums gelegene „Kleine Beginenhof“. Beginen waren Frauen, die ab dem 12. Jh. ähnlich wie Nonnen, aber ohne Gelübde, ein Leben in Gemeinschaft führten mit gleichen Rechten und Pflichten für alle. Aufnahme suchten vor allem Mädchen, die zu arm waren um zu heiraten und Witwen. Sie lebten in meist von Mauern umgebenen Komplexen mit kleinen Häusern und Gärten. Die französische Revolution bedeutete das Ende der meisten Beginenhöfe, um 1900 gab es noch 1500 Beginen in Flandern, heute gar keine mehr.
Viele der Höfe insbesondere in Gent und Brügge sind Teil des Weltkulturerbes der UNESCO.
In Gent gibt es zwei Beginenhöfe, den Beginenhof Sint-Elisabeth möchte ich mir auch noch anschauen.
Leider finden im „Kleinen Beginenhof“ gerade einige Bauarbeiten statt, dadurch stehen sehr viele Autos in den Gassen und ausgerechnet heute ist wohl Müllabfuhr, so dass vor jedem Haus ein „dekorativer“ neongrüner Müllbeutel steht. Ich drehe natürlich trotzdem eine Runde durch die ansonsten sehr schöne Anlage.
Vom Beginenhof spaziere ich weiter in Richtung Süden, komme nochmal an der Bibliothek „De Krook“ vorbei
und erreiche dann das Univiertel. Weithin sichtbar ist hier der Bücherturm, 64 m hoch, vom belgischen Stararchitekten Henry van der Velde. Eine Innenbesichtigung ist nicht möglich.
Nächstes Ziel ist die St. Peterskirche mit ihrer 57 m hohen Kuppel, die auch von innen sehr schön anzusehen ist. Irgendwie verfolgt mich heute das Fotografenpech, denn auf dem Platz vor der Kirche findet zum einen ein Jahrmarkt mit vielen Fahrgeschäften statt und direkt vor dem Eingang stehen viele Leute in einer Schlange, alle haben einen Feuerlöscher dabei, die wohl überprüft werden. Also kein Foto von der Kirche von außen.
Weiter komme ich durch die „Partystraße“ des Univiertels, hier steht eine Kneipe neben der anderen und bei allen ist die Tür offen und der Müll der vorigen Nacht wird mit viel Wasser auf die Straße gekehrt. Kein schöner Anblick.
Gegen 11 Uhr erreiche ich das „Museum für Schöne Künste Gent“. Das Gebäude wurde 2007 komplett renoviert und zeigt hauptsächlich Gemälde aus dem 19. und 20 Jh.
Der Eintritt ist in der City Card enthalten. Ich schaue mir hauptsächlich Werke belgischer Künstler an, z.B. das Bild „Hafen von Ostende“ (den ich in den nächsten Tagen selbst sehen werde) von Constant Permeke von 1913,
den „Vrijdagmarkt von Gent“ (den ich mir nachher noch anschaue) von François Boulanger von 1845.
Und zwei typische Bilder vom bekanntesten Künstler Ostendes, James Ensor, die „Melancholischen Fischerfrauen“ von 1892 und „Pierrot mit Skelett in gelbem Kleid“ von 1893 mit den für Ensor charakteristischen Totenköpfen.
Sehr gut gefällt mir aber auch das Bild des deutschen Erich Heckel, der „Augustinenrei in Brügge im Morgenlicht“ von 1917. Heckel war als Sanitäter mit der deutschen Armee zu dieser Zeit in Flandern (gleichzeitig waren die meisten belgischen Maler vor dem Krieg in Nachbarländer geflohen) und hat in seiner Freizeit Motive der Umgebung gemalt.
Mittagessen möchte ich hier im Museumsrestaurant, das sieht aber mit weißen Tischdecken schön eingedeckt mir zu elegant aus, die Preise auf der Karte passen dazu (sind aber auch nur Lunch Gerichte), so dass ich mir lieber etwas anderes suchen möchte.
In der Nähe des Museums hatte ich mir ein weiteres Restaurant notiert, dorthin gehe ich nun. Leider existiert das wohl nicht mehr, an der Adresse ist kein Restaurant zu sehen. Da ich mich außerhalb der Innenstadt befinde, ist es nun schwierig an etwas essbares zu kommen. Schließlich entdecke ich eine Art Bäckerei, dort gibt es alle möglichen Sandwiches zum Mitnehmen. Ich kaufe ein riesiges Baguette belegt mit Camembert, Walnüssen und Honig (EUR 4,50). Damit gehe ich zurück zum Museum, gegenüber gibt es einen Park, dort esse ich im warmen Sonnenschein auf einer Bank.
Auch den Rückweg ins Zentrum lege ich zu Fuß zurück. Erstes Zwischenziel ist eine moderne Wohnanlage in der Zebrastraat mit interessanter Kunst auf dem Dach und im Innenhof, wobei das Zelt über dem Teich wohl recht neu ist, bei meiner Reisevorbereitung war der Nagel noch ohne auf Fotos im Internet zu sehen, vielleicht wird das Zelt in den Sommermonaten entfernt.
Nun entscheide ich mich, nochmal zum „Kleinen Beginenhof“ zu schauen, auf dem Weg dorthin sehe ich die St. Peterskirche von weitem von hinten.
Und ich komme, ein reiner Zufallsfund, an einer weiteren modernen Wohnanlage vorbei, dem Hollainhof, vor der die Skulptur „Wildpferde“ steht, sehr interessant, wie aufgrund der Bauweise aus Holzlatten und dem Lichteinfall der Eindruck entsteht, die Tiere würden rennen. Die Skulptur soll zum einen daran erinnern, dass an dieser Stelle in früheren Zeiten vom Militär Pferde trainiert wurden, zum anderen sollen die Pferde die Bewohner der Anlage, die als Gruppe zusammenleben, symbolisieren.
Im „Kleinen Beginenhof“ sind inzwischen die Müllbeutel abgeholt und es stehen weniger Autos herum, so dass ich mir die gesamte Anlage nochmal anschaue und fotografiere. Das war eine gute Idee mit dem erneuten Besuch, sehr idyllisch hier.
Das Wetter ist heute wirklich herrlich, daher spaziere ich nochmal zum Kanal, an Portus Ganda vorbei
und in einem Bogen am Kanal entlang zum großen mit schönen Häusern z.T. im Jugendstil umgebenen Vrijdagmarkt.
Hier entdecke ich einen „Paul“, eine Bäckereikette, die ich bei unserer Luxemburg-Belgien-Frankreich Rundreise 2010 in Belgien zum ersten Mal gesehen habe, 2018 dann sogar in Cascais bei Lissabon. Gerade richtig für eine Kaffeepause – ich genieße eine Rhabarber Tarte und einen Latte Macchiato mit Blick auf den Vrijdagmarkt (EUR 8,10).
Um 16.30 Uhr habe ich meinen gestern Abend online reservierten und bezahlten Termin für die Besichtigung des Genter Altars. Die St. Bavo Kathedrale kann ich nun von allen Seiten im Sonnenschein anschauen, hinten mit dem Denkmal für die Gebrüder Van Eyck und den schönen Frühlingsblumen, vorne vom Sint Baafsplein aus mit den schönen Häusern daneben.
Meine Reservierung brauche ich gar nicht vorzuzeigen, es gibt vermutlich keine andere zurzeit, nur meine City Card wird gescannt, dann kann ich zum Altar durchgehen, ich kann all meine Sachen bei mir behalten, wenn mehr los ist, muss man wohl die Taschen und Jacken in die zahlreich vorhandenen Schließfächer einschließen.
Wie schon geschrieben ist der Genter Altar für viele Touristen einer der Hauptgründe für einen Besuch in Gent, er ist das Hauptwerk Jan van Eycks und seines Bruders Hubert (wobei sich darüber die Wissenschaftler streiten, hat Jan van Eyck den Altar alleine gemalt oder zusammen mit seinem Bruder?), er hat eine sehr interessante Geschichte, ist Thema im Film „Monument Men“ und er kann nach längerer Restaurierung erst seit kurzem wieder besichtigt werden. In der St. Bavo Kathedrale wurde nicht nur ein extra Zugang für den Altar, der an einem abgetrennten Raum in einem oberen Bereich der Kathedrale aufgestellt wurde, nicht an seinem ursprünglichen Platz in der Kirche, geschaffen, sondern eine ganze „Erlebniswelt“ rund um den Altar, nämlich eine Art Museum mit Augmented Reality. Dort kann man mit 3D bzw. VR Brille Einzelheiten zur Entstehung, und der späteren Geschichte des Altars erleben. Da es mir beim Tragen von 3D Brillen übel wird und mich der Altar auch nicht so brennend interessiert, dass mir sein Anblick und die Infos im Reiseführer und Internet nicht reichen würden, verzichte ich auf dieses „Extra Erlebnis“, das natürlich auch extra kostet.
Der Altar ist ein Flügelaltar mit zwei Seiten. Eine, die zu sehen ist, wenn die Flügel geschlossen sind und eine, wenn sie offen sind. Ursprünglich war normalerweise nur die geschlossene Seite zu sehen, nur an hohen Feiertagen wie Weihnachten oder Ostern gab es den Blick auf die geöffnete Version. Letztere ist hauptsächlicher Gegenstand des heutigen Interesses und somit nur gegen Bezahlung zu sehen. (Die weniger bedeutsame Vorderseite ist im allgemein zugänglichen Teil der Kirche aufgestellt, die habe ich leider irgendwie verpasst, im Internet kann man sie sich aber natürlich ansehen.)
In einem abgedunkelten Raum in einem Glaskasten kann ich nun die Festtagsseite des Altars genaustens anschauen, fotografieren ist erlaubt (die Bildqualität ist recht schlecht, es ist dort einfach zu dunkel für ein gutes Bild).
Zu sehen sind auf den einzelnen Abschnitten, genannt Tafeln, verschiedene biblische Szenen und Figuren. Oben links und rechts Adam und Eva (beide nackt, was 1432 bei Einweihung des Altars eine Sensation war), in der Mitte Gott oder Christus, daneben Maria und Johannes der Täufer. Links und rechts musizierende Engel.
Die wichtige untere Bildleiste bezieht sich auf die Offenbarung des Johannes (Neues Testament). Van Eyck malte die Zusammenkunft vieler Völker, um das Lamm, das Christus symbolisiert, zu verehren. Es ist eine idyllische Landschaft zu sehen, eine Art Paradies mit vielen Details und dem Lamm im Mittelpunkt. Die Besonderheit daran ist, dass zum ersten Mal „echte“ Menschen aus Fleisch und Blut gemalt werden und nicht wie bisher, nur sphärische Gestalten. Damit ist der Genter Altar Vorbild für viele spätere Maler wie Holbein, Brueghel oder Bosch und selbst Da Vinci.
Den Genter Altar wollten im Lauf der Jahrhunderte viele besitzen, während der zahlreichen Kriege wurde er an alle möglichen Orte gebracht, die einzelnen Teile wurde sogar getrennt voneinander, es gab Beschädigungen und Restaurierungen.
Die Mittelteile des Altars wurden von Napoleon nach Paris gebracht und im Louvre ausgestellt, die Seitentafeln gelangten über Umwege nach Deutschland, wo sie in verschiedenen Museen ausgestellt wurden.
Frankreich hat seinen Teil des Altars nach der Schlacht von Waterloo an Gent zurückgegeben, Deutschland wurde im Versailler Vertrag zum selben Vorgehen verpflichtet. Der komplette Altar wurde dann wieder in der St. Bavo Kathedrale aufgestellt. 1934 wurden zwei Tafeln gestohlen, eine davon ist bis heute verschollen, an ihrer Stelle wurde eine Kopie eingesetzt.
Im Zweiten Weltkrieg wurde der Altar von den Deutschen verschleppt und in einem Salzbergwerk bei Altaussee versteckt. Dort wurde er nach Kriegsende von der „Monuments, Fine Arts and Archives Section“ der US Army wiederentdeckt. Der Film „Monument Men“ handelt unter anderem von diesem Fund.
Nach der Besichtigung kaufe ich mir im Supermarkt ein Nudelgericht für die Mikrowelle, das ich dann in meiner Unterkunft auch gleich esse.
Gegen viertel vor sieben Uhr gehe ich dann wieder los, um mir ein letztes Mal die Stadt bei Dämmerung und Dunkelheit anzuschauen.
Für Susan: auf diesem letzten Foto ist der Belfried zu sehen mit der Drachenfigur auf der Turmspitze. Und auf auf dem Foto der St. Bavo Kathedrale von hinten ist im Hintergrund auch der Turm des Belfrieds zu sehen, auf der Kirche weht eine ukrainische Fahne.
Gegen 20 Uhr bin ich wieder zurück im Hotel.
Wetter: vormittags teilweise bewölkt, ab ca. 12 Uhr sonnig, ca. 8 - 11°C