Samstag, 6. AugustIch wache früh auf und höre, wie jemand – oder etwas – um meine Cabin schleicht. Es knirscht, es poltert, das ist bestimmt ein Bär. Als ich dann aber hinaus schaue, sind es doch nur Leute, die ihr Gepäck ins Auto laden.
Dass ich von selbst früh wach geworden bin, ist ein Glück, denn als ich einen Blick aufs Handy werfen will, das ich als Wecker benutze, ist es ausgeschaltet und reagiert auf Einschaltversuche nur mit einem kurzen Vibrieren und Brummen. Ich kann nur hoffen, dass es nicht kaputt ist, sondern sich nur beim dem Versuch, ein Netz zu finden, völlig entladen hat, aber so langsam habe ich die Nase voll von technischer Ausrüstung, die mich im Stich lässt. An dieser Stelle muss ich erwähnen, dass das Navi sich zwischendurch tagelang nicht mehr an die Scheibe heften ließ, sondern immer nach ein paar Minuten abgefallen ist, wahrscheinlich lag das an der Hitze.
Für heute habe ich eine geführte Wanderung ins Pelican Valley gebucht. Der Trailhead ist östlich der Fishing Bridge, eine Stunde Fahrzeit soll ich nach Auskunft des Veranstalters bis dorthin veranschlagen. Das kommt mir viel vor, aber dürfte sowieso kein Problem sein, denn ich will sowieso früher wegfahren und vielleicht unterwegs noch das ein oder andere Bild machen. Irgendwie komme ich heute morgen aber nicht so richtig in die Gänge, alles dauert ewig, und erst als ich den Koffer schon zugemacht habe und der Rucksack abmarschbereit neben mir steht, merke ich bei dem Versuch, einen Gürtel anzuziehen und das Bärenspray daran zu befestigen, dass ich noch gar keine Hose anhabe. Ups.
Um zehn vor acht sitze ich endlich im Auto und fahre los. Die Straßen sind noch ziemlich leer, ich komme problemlos durch, aber die Uhr tickt, und am Parkplatz am Trailhead komme ich dann tatsächlich erst um fünf vor neun an. Dort stehen schon ein paar Autos und ein zweiter Wanderer, der die Tour gebucht hat. Um punkt neun biegt dann das Auto unserer Führerin um die Ecke, und das wars: Wir sind heute nur zu dritt. Sehr schön, ich hatte schon irgendwie befürchtet, Teil einer riesigen Gruppe zu sein. So machen sich also drei Personen mit zwei Flaschen Bärenspray auf den Weg.
Ins Pelican Valley sollte man tunlichst nicht alleine wandern, es ist Grizzly-Gebiet. Unsere Führerin erklärt uns aber, dass ihr Chef, der die Touren organisiert, hier noch nie einen Grizzly gesehen hätte, und mit dieser beruhigenden Erkenntnis wandern wir los. Mein Mitwanderer erinnert mich schon bald sehr an Raj von der Big Bang Theory, nicht nur wegen seiner indischen Herkunft. Nur mit dem Ansprechen von Frauen hat er kein Problem, und das zeigt er ausgiebig an unserer Führerin. Ich bin zum Glück außen vor und lausche gebannt, was er erzählt. Zuerst denke ich, er sei irgendein Naturforscher, denn er erzählt unter anderem von Adlernestern und dem unterschiedlichen Verhalten der Adlerküken, aber dann finde ich heraus, dass er den Adlerküken auf Youtube folgt. Er folgt offenbar noch so einigen anderen Tieren auf Youtube, und davon berichtet er ausgiebig. Seine Brötchen verdient er als Mediziner / Biologe / Informatiker irgendwo in Kalifornien, es geht jedenfalls um Gehirnforschung, aber an diesem Punkt lassen mich meine Englischkenntnisse im Stich.
Offenbar hat er aber beschlossen, die Youtube-Welt zu verlassen, denn er berichtet, im letzten Jahr hätte er den ersten Hike seines Lebens gemacht, und auf die 10-Meilen-Wanderung heute hätte er sich mit einer 5-Meilen-Wanderung letzte Woche vorbereitet. Wie er da so läuft, mit seinem großen Rucksack, mit zwei Trinkflaschen links und rechts in den Außentaschen und einem Trinkschlauch, der aus dem Rucksack ragt, seiner Kappe mit dem angesetzten Nackenschutz und dem Fernglas und dem Fotoapparat, die vor seiner Brust baumeln, sieht er aus wie aus einem Comic entsprungen. Ein bisschen nervig ist er ja, aber so auch so ansteckend begeistert.
Die Wanderung selbst gefällt mir richtig gut. Zuerst geht es durch einen lichten Wald mit saftig grünem Gras, vorbei an angekohlten Bäumen und schließlich hinaus in die Wiesen. Unterwegs sehen wir noch eine Eule, aber leider flattert sie davon und sämtliche Versuche, sie noch einmal aufzuspüren, scheitern.
Wir erreichen schließlich den Fluss, der sich in großen Schlingen träge durch das Tal windet.
„Raj“ ist begeistert, denn er hat einen vermeintlichen Bald Eagle erspäht und beobachtet ihn durch sein Fernglas. Der Vogel ist so weit weg, dass man nicht einmal durchs Fernglas erkennen kann, ob er einen weißen Kopf hat, aber Raj macht aufgeregt Fotos.
Unten am Fluss legen wir schließlich eine Rast ein, ich esse mein mitgebrachtes Sandwich, die Führerin hat sich ein Stück Lachs mitgebracht, nur Raj hat offenbar nicht damit gerechnet, dass man auf seiner solchen Wanderung irgendwann rastet und etwas isst, aber zum Glück hat unsere Führerin genügend Snacks für ihn dabei. Mein Teleobjektiv bekommt nur ein wenig Futter in Form von kleinen Enten und Blüten. Ich muss ehrlich sagen, dass ich mir von der Tour etwas mehr Wildlife versprochen hatte, aber jetzt, mitten am Tag, ist es eigentlich kein Wunder, dass wir außer kleinen Vögeln nichts zu sehen bekommen. Unserer Führerin erklärt uns außerdem, dass es ein sehr trockenes Jahr sei. Im Winter sei wenig Schnee gefallen bzw. liegengeblieben, so dass es dann auch bei der Schneeschmelze wenig Wasser für die Flüsse gegeben hätte.
Wir wandern noch ein Stück weiter, bis wir eine ehemalige Brücke erreichen, von der jetzt nur noch die Mitte im Fluss steht.
Das ist der Umkehrpunkt der Wanderung, aber ob es bis hierher wirklich 5 Meilen waren? Den Rückweg – Raj stoppt die Zeit – schaffen wir jedenfalls in 1 Stunde 44 Minuten, obwohl wir kein sonderlich scharfes Tempo einschlagen. Am Parkplatz verabschieden wir uns, und ich bedanke mich für die schöne Wanderung. Während ich mein Zeug ins Auto räume, beehrt Raj die Führerin mit seiner Visitenkarte. Sie hat uns unterwegs erzählt, dass sie eine eigene Firma gründen will, um maßgeschneiderte Touren anzubieten, und vielleicht hat sie in Raj schon den ersten Kunden gefunden.
Ich mache mich auf den Rückweg und beschließe, am West Thumb Basin zu halten, wenn ich schon mal hier bin, auch wenn damit rechne, dort ewig auf einen Parkplatz zu warten. Aber komischerweise stehen hier mehrere Parklücken zur freien Auswahl. Der Himmel ist inzwischen voller Wattewolken, und es ist gar nicht so einfach, den Moment abzupassen, an dem die Sonne in die heißen Quellen scheint, und so verbringe ich viel Zeit hier. Hier im Bereich des West Thumb Basin gab es nach der letzten großen Eruption des Yellowstone-Supervulkans vor ca. 600.000 Jahren einen kleineren Ausbruch vor ca. 125.000 – 200.000 Jahren. Dieser Ausbruch hinterließ eine kleinere Caldera in der größeren Yellowstone-Caldera. Diese kleinere Caldera bildet heute eine Erweiterung des Yellowstone-Lakes im Bereich des „Daumens“, und die heißen Quellen und Fumarole setzen sich unter dem See fort.
Wie überall im Park ändern sich auch im West Thumb Basin die geothermalen Aktivitäten im Lauf der Jahre und Jahrzehnte. Der Black Pool beispielsweise war früher von Bakterien besiedelt, die ihm eine fast schwarze Farbe gaben. Nach einem Energieschub in den 1990er Jahren starben die Bakterien ab, und heute erscheint der Pool intensiv blau.
Bei anderen Attraktionen hat sich eher das Besuchsverhalten in den letzten Jahrzehnten geändert. Offenbar gehörte es bis 1912 zum touristischen Pflichtprogramm, vom Fishing Cone zu angeln und den Fisch an der Angel in der heißen Quelle zu kochen, oder zumindest posierte man mit Angel und Kochmütze für ein entsprechendes Foto. Heute bekäme man vermutlich Parkverbot auf Lebenszeit, wenn man sich dem Fishing Cone mit Kochmütze und Angel nähern würde.
Danach überlege ich: Direkt zurück zum Old Faithful oder nochmal ein Stück nordwärts fahren, um von einer Parkbucht einen Blick auf ein unerschlossenes Geysir-Becken zu werfen, das ein paar Minuten vom West Thumb Basin entfernt ist? Spontan entschließe ich mich, rechts abzubiegen, was wirklich Glück ist, denn so kann ich das Auto direkt am Straßenrand parken, als ich Leute erspähe, die mit Fotoapparaten bewaffnet in den Wald spähen. Wo so viele Leute sind, muss interessantes Wildlife sein, denke ich und frage eine junge Frau, was es denn zu sehen gebe. Ein Elk, na gut, dann schaue ich mal und rechne eigentlich mit einem Weibchen, aber dann sehe ich ein Geweih, wow, was für ein Prachtexemplar!
Ich schaffe es schließlich, ihn ganz gut vor die Linse zu bekommen, während er sich scheinbar völlig unbeeindruckt von seinen Followern durch die Landschaft grast. Vielleicht hat er auch schon einen eigenen Youtube-Kanal und weiß, was er seinen Zuschauern schuldig ist.
Trotzdem muss ich ziemlich entsetzt feststellen, dass es Leute gibt, die sich ihm mit gezücktem Handy von hinten bis auf zwei Meter nähern - auch wenn ich gestehen muss, dass ich auch näher dran war als vorgeschrieben. In solchen Situationen geht dann doch der Jagdtrieb mit mir durch. Nach ein paar letzten Fotos lasse ich den Wapitihirsch alleine, und auch die meisten anderen Leute gehen jetzt zurück zum Auto und lassen das Tier in Ruhe weiterfressen.
Noch ein kurzer Stopp an der Straße und ein Blick aufs Pott Basin, dann fahre ich Richtung Old Faithful.
Wow, das war ja bisher ein toller Tag, eine schöne Wanderung, heiße Quellen, Wapitis, jetzt fehlt eigentlich nur noch ein Geysir-Ausbruch. Zurück am Old Faithful gehe ich also ins Visitor-Center und stelle fest, dass der Riverside-Geysir in einer Stunde ausbrechen soll, sehr schön. Inzwischen türmen sich zwar die Wolken vor der Sonne, aber vielleicht habe ich ja Glück, und die Sonne kommt wieder rechtzeitig heraus. Der Castle Geysir wird derzeit als „unpredictable“ geführt. Gut, dass ich den Ausbruch schon gesehen habe.
Der Weg zum Riverside-Geysir zieht sich ein wenig. Spätestens jetzt habe ich die 10 Meilen von der Wanderung doch voll. Am Geysir warten schon ein paar Leute, und dann bricht der Geysir praktisch pünktlich auf die Minute um 18.25 Uhr aus. Mit der Sonne klappt es leider doch nicht so ganz.
Auf dem Rückweg mache ich noch ein Fotos des Kegels des Grotto-Geysirs, hinter dem sich der Himmel schon schwarz färbt.
Also lege ich lieber mal einen Zahn zu. Auf den letzten Meter vor dem Visitor-Center fängt es dann an, dicke Tropfen zu regnen, also schnell rein ins Center, und in dem „Auditorium“, einem kleinen Kinosaal, schaue ich mir dann noch den Rest des heutigen Ranger-Programms an. Es stehen Geschichten und Mythen verschiedener Indianervölker an, ein Ranger erzählt sie und zeigt dazu passende Bilder auf der Leinwand. Am besten gefällt mir ja die Story über den Chief with the tender feets, einen großen Häuptling, der wegen seiner zarten Füße immer Teppiche vor sich ausrollen ließ, bis er mit diesem System an seine Grenzen stieß, weil die Squaw seiner Wahl einfach einen unbeteppichten Weg einschlug. Also erfand sein Medizinmann mobile Fußteppiche, und voila, die Mokassins waren geboren.
Danach gönne ich mir im Haupthaus der Lodge noch einen Salat, sowas gibt’s hier also auch. Am Horizont geht die Sonne unter, und färbt die Wolken orange. Schade, dass gerade kein Geysir ausbricht, aber der Old Faithful spuckt nur ein wenig Dampf. Es sind wieder Leute hier, die geduldig auf den Ausbruch warten, und irgendwie kann ich mich auch nicht losreißen und warte auch. Gegen neun Uhr bricht er dann wirklich aus, diesmal eine Viertelstunde vor der berechneten Zeit.
Jetzt ist aber endgültig Zeit für die Cabin. Ich hole mir noch Getränke aus dem Auto, und dann darf ich mich mit meinem blöden Handy herumärgern. Den ganzen Tag hing es am Aufladegerät, aber außer einem müden Vibirieren gibt es nichts von sich, wenn ich es einschalte. Super, anscheinend hat es seinen Akku vernichtet. Hm, vielleicht versuche ich in den nächsten Tagen mal, es im Auto anzuschließen.
Mit meinem Milchstraßen-hinter-Geysir-Foto wird es auch heute nacht nichts werden. In südwestlicher Richtung stapeln sich Wolken. Also bleibe ich in der Cabin, mache mir eine Flasche kalifornischen Weißwein auf, schreibe Reisetagebuch und sichte die Fotos des Tages.
Mal schauen, was ich morgen unternehmen werde. Der Wetterbericht war etwas gemischt. Den Wecker stellen kann ich nicht, also werde ich einfach mal schauen, wann ich morgen aufwache und wie dann der Himmel aussieht.
Gute Nacht!