Im Hotel angekommen, bringen wir unser Gepäck in einen abschließbaren Raum, weil wir erst in drei Stunden unsere Zimmer beziehen können. Um die Zeit bis dahin zu nutzen, unternehmen wir eine ersten Besichtigungstour.
Bei fünfundzwanzig Grad und blauem Himmel spazieren wir zum Fluss hinunter, dort wo der Skytree links neben der Asahi-Brauerei in den Himmel ragt. Ausflugsboote schippern vorbei und Touristen lehnen sich über das Steingemäuer der Brücke nebenan, um die Aussicht und die Sonne zu genießen. Mich erinnert die Szenerie sehr an den Bund von Shanghai und die beiden Gebäude der Asahi-Brauerei bringen mich zum Schmunzeln. Das helle Bierglas mit Schaum in Form eines Hochhauses ist deutlich zu erkennen. Das kleine Gebäude rechts daneben, das wohl ein dunkles Bier mit Schaum darstellen soll, ist für mich aber eher eine schwarze Cappuccinotasse mit nach Kaffee duftendem Dampf.
Die Fotoapparate der Gruppenmitglieder treten in Aktion und nach wenigen Minuten sind wir wieder unterwegs Richtung Senjoji-Temple, an dem wir vorhin vorbeigelaufen sind.
Man erzählt sich, dass 628 nach Christus zwei Brüder eine Statue der Göttin Kannon (Göttin der Barmherzigkeit) aus dem Fluß Sumida gefischt hätten. Sie warfen die Statue mehrfach wieder ins Wasser, doch immer wieder wurde sie an der gleichen Stelle angeschwemmt. Deshalb errichtete man Kannon zu Ehren an dieser Stelle einen Tempel, den Senjoji. 645 nach Christus wurde er fertig gestellt und ist somit der älteste Tempel Tokyos. Da in Japan Buddhismus und Shinto eine Verschmelzung eingegangen sind, befindet sich auf dem Tempelgelände sowohl ein Schrein als auch ein buddhistischer Tempel.
Nun betreten wir diesen Tempel, der für seine riesigen Laternen bekannt ist, die in den Toren und am Tempel selber hängen. Wenn die Laterne am Eingangstor, dem Donnertor, herunterfallen würde, könnte sie einem mit ihrem Gewicht sicher erschlagen. Wie all die anderen riesigen Laternen des Senjoji ist sie aber mit vier dicken Tauen gesichert. Ich möchte sie mir von unten anschauen und entdecke ein interessantes, in den Holzboden geschnitztes Motiv. Ich ernte neugierige Blicke, als ich die Kamera für dieses Bild auf den Boden lege. Aber gleich danach versucht sich eine chinesische Reisegruppe ebenfalls an dem sich durch den hölzernen Himmel windenden Drachen.
Ist man unter der Laterne durchgegangen, dann taucht man in eine geschäftige, von Ständen gesäumten Flanierstraße ein, in der alles zu finden ist, was Touristen und Japaner sich zur Zerstreung wünschen: Buden mit Fächern, Ess-Stäbchen in den verschiedensten Hölzern und Designs, Schals, Schuhe, Socken, No-Masken, Schreibutensilien, Stofftieren und Devotionalien für den Hausgebrauch, Kimonostoffe, Andenkennippes und Spielzeug. In der Mittagshitze wabbern Jahrmarktsdüfte über den Ständen, die Süßigkeiten anbieten. Jede Tüte Leckereien ist frisch zubereitet und erhält beim Verkauf vor den Augen des Kunden einen Datums- und Firmenstempel und vielleicht noch ein Schleifchen als Verzierung. Trauben von Schulklassen auf Klassenfahrt sammeln sich wie schwärmende Bienen vor Süßigkeitsbuden. Rentner probieren mitten im Gewühl Schuhe, die ein paar Stände weiter angeboten werden. Männer kaufen die Taschen, die ihre Anbeteten grade in den Tiefen eines Lederladens erstöbert haben oder den Parfümflacon, der so exotisch aussieht. Der Menschenstrom wälzt sich nicht nur in eine Richtung. Die einen verlassen das Tempelgelände, die anderen streben zum Hauptgebäude, Grüppchen, die sich gegenseitig ausweichen, Pärchen, die sich in dem ständigen Hin und her ein Durchkommen suchen, Leute, die sich am Rand des Gewühls durchschlängeln.
Wenn man das zweite Tor mit drei riesigen Laternen passiert, werden die Geräusche der Geschäftsstraße leiser, doch auch hier drängen sich die Menschen auf dichtem Raum. Man ist im Tempelvorhof angelangt, wo man Talismane in Form von kleinen, mit Brokatstoff überzogenen Täfelchen gegen die Übel dieser Welt erstehen kann, wo Weissagestäbchen in Blechdosen geschüttelt werden, um die Zukunft vorherzusagen, wo ein großes Räucherbecken vor sich hinqualmt und demjenigen Linderung oder Heilung verspricht, der den Rauch dorthin fächelt, wo es am meisten schmerzt. Und hinter dem Räucherbecken hängt die letzte Laterne, unter ihr der Bittaltar, an dem man Kannon seine Ehrerbietung erweisen kann, wenn man vom Einkaufsstress erschöpft die Stufen zu den mächtigen Tempeltüren bewältigt hat.
Nach dieser ersten japanischen Reizüberflutung geht es wieder zurück zum Hotel. Unsere Reiseleiterin zeigt uns noch den kleinen Combini, einen Minisupermarkt, der nur ein paar Schritte weit vom Hotel entfernt liegt und vierundzwanzig Stunden lang geöffnet hat. Wer mitten in der Nacht Hunger bekommt, findet hier noch ein frisches Gericht, das auf Wunsch gleich in der Mikrowelle aufgewärmt wird. Und wer Lust auf eine kleine Portion Sushi hat, findet das ebenfalls frisch und verbrauchsfertig im Kühlregal. Hölzerne Stäbchen dazu bekommt man kostenlos an der Kasse.
Anschließend holen wir unser Koffer aus dem abschließbaren Raum und bekommen unsere elektronischen Zimmerschlüssel. An den Ansprüchen von Europäern orientiert man sich hier im nicht. Vielmehr ist das Hotel Teil einer Hotelkette, die hautsächlich japanische Geschäftsreisende anspricht, aber auch gerne von chinesischen Reisegruppen gebucht wird. Die Hotel liegen immer in der Nähe von U-Bahnstationen, die in wenigen Minuten Fußmarsch zu erreichen sind.
Es gibt nur japanisches Frühstücksbüffet und in der Lobby steht ein Getränkeautomat, aus dem allerlei Getränke gezogen werden können. Eine Flasche grüner Tee kostet zweihundert Yen und eine Dose Sake (Reisschnaps) fünfhundert Yen. Neben dem Aufzug befinden sich drei Waschmaschinen, Trockner und ein Waschmittelautomat. Für zwanzig Yen bekommt man Waschmittel und für jeweils hundert Yen hat man innerhalb einer Stunde sein Wäsche gewaschen und getrocknet. In den folgenden Wochen werden wir immer in den Hotels dieser Kette wohnen.
Auch wenn ich jetzt dringend eine Dusche und frische Kleider brauche, hat es doch gut getan nach zehn Stunden Flug die verspannten Muskeln durch ein wenig Bewegung zu lockern. Als ich mein Zimmer im 7. Stock des Hotels beziehe, bekommt das Wort Nasszelle für mich eine ganz neue Bedeutung. Große Europäern mit Veranlagung zur Klaustrophie könnten hier drinnen ein Problem bekommen. Um zu duschen, gerät das Steigen über den Badewannenrand, zur gymnastischen Übung, weil die Badewanne für Nichtjapaner ungewöhnlich hoch gehalten ist. Kein Wunder, denn die Japaner baden eher sitzend in heißem Wasser ohne Badezusätze, als dass sie duschen. Und genau dafür sind die Wannen ausgelegt.
Nach der Dusche ist es ein wunderbares Gefühl frische Kleider anziehen und sich endlich mal wieder ausstrecken zu können.
Zufrieden stelle ich fest, dass das Bett für meine 1,78 cm völlig ausreicht. Nur das Kopfkissen ist so bretthart wie ein Holzkeil, den man sich in der Edozeit zum Schlafen untern den Nacken schob.
Auf einem Sideboard steht ein Heißwasserkocher und einige Tütchen mit grünem Teepulver. Eines enthält eine für europäische Gaumen gewöhnungsbedürfte Geschmacksrichtung: Konbu-Tee (Seetangtee). Ich probiere das gleich mal aus .... und lasse es den Rest der Reise dann sein. Um den salzigfischigen Geschmack loszuwerden, koche ich einen grünen Tee und verspeise dazu genüsslich das Sushi, das ich aus dem Combini mitgebracht habe. Während mein Blick aus dem Hotelzimmefenster über den Betondschungel Tokyos schweift, warte auf den Sonnenuntergang, denn ich möchte noch einmal zum Senjoji-Tempel, um Nachtaufnahmen zu machen. Die Zeit vertreibe ich mir auch damit, durch das japanische Fernsehen zu zappen. Ich verstehe kein Wort, aber das Gequassel des japanischen Verkaufsfernsehen hat eine beruhigende Wirkung. Wie überall in der Welt werden auch hier Pillen gegen jedes Zipperlein und Cremes für die nie enden sollende Schönheit verkauft. Zwischendurch nicke ich kurz ein. Doch eine Stunde später bin ich wieder wach.
Als die Sonne die Wolkenkratzer in goldenes Abendlicht hüllt, ziehe ich los und wundere mich, dass ich immer noch fit bin, denn schließlich habe ich eine Nacht nicht geschlafen. Ich frage mich, wann der Jetlag, ausgelöst durch die acht Stunden Zeitverschiebung, mit aller Härte zuschlägt.
Als ich nach zwanzig Minuten Fußmarsch am Senjoji-Tempel ankomme, herrscht dort immer noch reges Treiben. Doch jetzt schließen die Buden der Flaniermeile. Nur vor dem Donnertor vergnügen sich Jugendliche mit Selfies, indem sie ihre Handys an lange Stative klemmen und versuchen möglichst originell zu posieren. Büroangestellte treffen sich hier nach Feierabend zum Abendessen. Neben mir gibt ein junger Mann ein Interview und wird dabei gefilmt. Ein Brautpaar stellt sich vor die rote Laterne, sie im weißen Brautkleid, er im schwarzen Frack und lassen sich von ihrem Fotografen fürs Hochzeitsalbum verewigen.
Ich schraube den Neutraldichtefilter auf die Kamera, um durch die vorbeilaufenden Menschen Geistereffekte zu erzeugen oder sie ganz aus dem Bild zu verbannen.
Danach schlendere ich durch hell erleuchtete Budenstraße, deren Geschäfte jetzt geschlossen sind, hinunter zum Tempel. Es kommt Wind auf und die großen Laternen beginnen leicht zu schaukeln. Ich hoffe, dass ich wenigstens eine scharfe Langzeitaufnahme von den riesigen Laternen machen kann.
Für mich entfaltet der Senjoji erst jetzt seinen Zauber. Ohne die Menschenmassen wirkt er wie eine Insel der Ruhe, mystisch im gelblichen, warmen Scheinwerferlicht.
Ich gehe langsam zurück und wandere durch die Restaurantstraßen rund um den Tempel, die sich einen leicht historischen Anstrich geben.
Im Hotel angekommen, glaube ich zuerst, ich könnte nicht schlafen, doch dann wache ich am nächsten Morgen ausgeruht auf, ohne dass ich gemerkt hätte, eingeschlafen zu sein.