Es ist Samstag, einer der Tage, an denen die Japaner gerne shoppen gehen oder heiraten. Menschenmassen werden mich wohl den ganzen Tag begleiten. Mit diesem Gedanke gehe ich frühstücken. Es ist mein erstes japanisches Frühstück. Und im kleinen Frühstücksraum des Hotels herrscht zur Einstimmung auf die Menschenmassen schon mal Trubel. Eine zwanzigköpfige, chinesische Reisegruppe belagert das Büffet aus eingelegtem Gemüse, Misosuppe, Onigiri und warmen Bohnen. Weil ich Probleme habe den Reiskocher zu öffnen, ist sofort eine Servicekraft zur Stelle, um mir zu helfen. Die nette Dame erklärt mir durch Gesten, wie man den Kaffeeautomaten bedient und an einen grünen Tee kommt. Ich bedanke mich artig mit einem »Arigato goseimas« und zwänge mich zwischen einen japanischen und einen chinesischen Gast, um mein Frühstück zu verspeisen. Dabei studiere ich möglichst unauffällig wie die zwei mit den Stäbchen die Gemüsestücke und Noirstreifen (Seetang) aus der Misosuppe herausfischen, in den Mund befördern und danach die übrig gebliebene Brühe aus der kleinen Schüssel trinken. Dann üben ich das mal und auf wunderbare Weise gelingt es mir, mich nicht zu bekleckern. Durch Übung kann es nur besser werden. Und gut geschmeckt hat es außerdem noch!
Um halb neun steht die Reisegruppe vorm Hotel und wartet, ...denn es fehlt noch einer. Es stellt sich heraus, dass er noch tief und fest schläft und den Wecker wegen seiner Ohrstöpsel nicht gehört hat. Leicht derangiert und geknickt trabt er zehn Minuten später an, wird von der Gruppe lachend begrüßt und dann ziehen wir los, zunächst zum Meiji-Schrein.
Der Schrein ist dem Kaiser gewidmet, der Japan dem Westen öffnete, dem Herrscher, nach dem diese Ära des neunzehnten Jahrhunderts benannt ist: Meiji. Auch seine Gemahlin wird im Schrein verehrt. Vielleicht ist das der Grund, warum der Meiji-Schrein bei Hochzeitspaaren so beliebt ist.
Mit der U-Bahn sind wir schnell am Ziel. Doch eine gelblich Nebeldecke aus Smog bedeckt den Himmel, der heute morgen noch blau war. Dieses Licht beeinflusst auch die Aufnahmen dieses Tages. Die Farben der Bilder sind gedämpft, ohne richtige Strahlkraft. Und doch passt dieses fast mystische Licht zum Weg, der in wahrlich kaiserlicher Breite zum Schrein führt. Wie es sich für einen Schrein gehört, liegt er mitten in einem für diesen Zweck angelegten Wald.
Unsere Reiseleiterin erzählt uns, dass es besondere Regeln beim Betreten des Schreins gibt. Am Beginn des Weges durch den Wald steht ein 12 Meter hoher Tori. Wenn man ihn durchschritten hat, darf man nichts mehr essen, trinken und sagen. Man sollte am Rand des Weges gehen und nicht in der Mitte, wohl eine Regel, die aus alten Zeiten stammt, wo niedergestellte Menschen, den höher gestellten und Göttern Platz machen und ihren Respekt zollen mussten.
Ich habe Sandalen an und merke beim Durchschreiten, dass dieser Weg für mich steinig werden wird, denn er ist mit winzigen Steinchen geschottert. Sofort zwängen sich ein paar von ihnen in meinen Sandalen und so muss ich alle paar Schritte mein Füße kräftige schütteln, damit ich sie wieder los werde. Vor mir schwingt ein Arbeiter einen Besen mit sehr langen Stiel, um verdorrte Blätter vom Weg zu fegen. Der Arbeiter erledigt seine Aufgabe mit Hingabe, als wäre es eine Kampfsportübung oder eine Zenmeditation, die zu höheren Weihen führt. Breitbeinig und leicht gebückt steht er da und dirigiert eine Staubwolke aufwirbelnd die Blätter auf einen Haufen. Immer und immer wieder wiederholt er die Kehrbewegung im gleichen Rhythmus.
Als es zu staubig wird, gehe ich weiter und stehe bald vor eine Wand aus Sakefässern, die dem Schrein als Opfergabe gespendet wurden.
Sie werden ein Jahr lang an dieser Wand den Besuchern des Schreins präsentiert, bei Schreinfesten vom Priester gesegnet und danach ausgeschenkt, gegen Bares versteht sich, da sich die Shinto-Schreine, wie auch die buddhistischen Tempel in Japan selber finanzieren müssen.
Nun ist es nicht mehr weit zum Schrein, der eingebettet im Maigrün der Bäume liegt. Durch den Blätterfeger habe ich meine Gruppe aus den Augen verloren und leider finde ich sie im Getümmel der Schreinbesucher nicht wieder. Deshalb sehe ich mich auf eigene Faust um, nachdem ich die Reinungszeremonie am Tempelbrunnen erledigt habe: Man hält eine kleine Bambuskelle Wasser unter fließendes Wasser, um sich damit die rechte und dann die linke Hand zu waschen. Mit einem Nippen an der Kelle soll auch der Mund ausgespült werden. Aber manche Schreinbesucher lassen die Mundwaschung einfach weg, wohl aus hygienischen Gründen. Wenn man fertig ist, reinigt man die Kelle noch einmal unter dem fließenden Wasser und legt sie umgedreht, damit sie abtropfen kann, für den nächsten Besucher bereit.
Mein erster Blick im Schrein fällt auf ein Hochzeitspaar in japanischer Tracht, das für eine Aufnahme im Wald zurechtgesetzt wird. Fünfzig Meter weiter ist ein weiterer Fotograf mit einem anderen Hochzeitspaar beschäftigt.
Im Schreinhof ist ein heiliger Baum von einem Gestell umgeben, an dem man Emas aufhängen kann, kleine Holztäfelchen, die im Schreinladen für 500 Yen erworben werden können und auf die die Menschen ihren Wunsch an die Götter schreiben und hier unter dem heiligen Baum aufhängen können. In regelmäßigen Abständen werden sie von dem Gestell abgenommen und verbrannt. Wenn sie in Rauch aufgehen, gelangen die Wünsche der Menschen zu den Göttern.
Plötzlich wummert ein Trommelschlag zu mir herüber. Die Trommel muss sehr groß sein, denn der tiefe Ton des Schlages lässt meinen Magen kribbeln. Ein weiterer Schlag folgt und von Neugier getrieben strömen viele Schreinbesucher zum Tempelhof und zu schauen, was da los ist. Ein Schreinhelfer schlägt eine Trommel die waagrecht vor ihm liegt und zweimal so groß ist wie er. Im Mittelgang des Hofes erscheint ein Shintopriester mit zwei Begleitern, vollführt eine Zeremonie und läuft durch einen Seitengang zur Hochzeitshalle, in der eine Hochzeitsgesellschaft wartet. Wenig später formiert sich ein kleiner Zug, angeführt von dem Shintopriester, gefolgt von dem Brautpaar. Die Mutter der Braut hält die Hände ihrer Tochter und führt sie, während die Hochzeitgesellschaft folgt. Man geht langsam, schweigend, mit feierlichem Schritt, fast in Zeitlupe über den Tempelhof, vorbei am Altar. Rechts und links des Hochzeitszuges wachen Ordner darüber, dass die Neugierigen eine Gasse für das Spektakel bilden und Fotografierwütige durch Drängeleien nicht aus der Reihe tanzen oder die Feierlichkeit der Zeremonie stören. Kaum hat die Gesellschaft den Tempelhof durch das gegenüberliegenden Tor verlassen, schreitet schon das nächste Hochzeitspaar über den Hof. Dieser Samstag muss wohl nach dem Shintokalender ein guter Tag zum Heiraten sein.
Ich mache mich auf den Rückweg, ohne den kaiserlichen Göttern meine Reverenz erwiesen zu haben, aber zumindest verneige ich mich nochmal respektvoll am Tor in den Tempelhof hinein, genauso wie es ein japanisches Paar neben mir tut.
Der Weg zurück ist wieder steinig und mehrfach muss ich meine Sandalen ausschütteln, weil wieder kleine Steinchen zwischen das Fußbett der Sandalen und meine Füße geraten sind. Doch ich schaffe es meine Reisegruppe wiederzufinden und als wir vollzählig sind, geht es weiter zum Kaiserpalast.
Die U-Bahn spuckt uns neben dem Stadtpark aus, der vor den Toren des Kaiserpalastes liegt. Nach dem Überqueren einer Kreuzung stehen wir von dem riesigen Wehrgraben, dessen Wasser von grünen Algenteppichen überzogen ist. Der Himmel zieht sich noch weiter zu und der Smogschleier hüllt die Stadt noch weiter ein. In diesem Klima hetzten reihenweise Jogger durch das massive Einlasstor in die Palastanlage, denn die sechzehn Kilometer lange Umrundung des Palastes ist die einzige Möglichkeit in der Stadt eine so lange Strecke zu laufen ohne Kreuzungen zu überqueren oder mit Verkehr in Berührung zu kommen. Dass mehrspurige Straßen die Jogger in weiten Teilen um die Palastanlage begleiten, wird wohl gerne ausgeklammert. Manche sehen aus, als würden sie vor Erschöpfung gleich umfallen, während andere wie Olympioniken an ihnen vorbeiziehen. Manche sind als Superman, Spiderman oder als Son Goku, dem Helden des Animes Dragonball, kostümiert und hecheln mit einem Lächeln auf dem Gesicht zum Ende des Tracks. Ihr Ziel sind die breiten Wege vor der Palastbrücke. Diese Brücke ist ein beliebtes Fotomotiv, weil hinter ihr ein Gebäude des kaiserlichen Palastes zu sehen ist.
Viele der Jogger sammeln sich in kleinen Gruppen, denn sie sind alle Angehörige von Firmen oder Schulklassen, die gemeinsam in ihrer Freizeit etwas leisten und dadurch das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken wollen. Dazwischen stehen Fotografen, die darauf warten, dass jemand ihre Minitribünen aus Holz vor der besagten Brücke für das Gruppenfoto zum Abschluss der Veranstaltung bucht.
Meine Gruppe zieht weiter in die Hochhauswüste an den Ufern der Kaiserpalast-Insel, um an der U-Bahnstation etwas zu essen. Danach geht es weiter in die Ginza.
Wem »Son Goku« und »Dragonballs« nichts sagt:
http://www.dragonballwiki.de/Son-Goku